36. Tag, Mi, 9. August 2000

... wo wir sehen, wie Ziegenköpfe geschrubbelt werden ...

Wir wachen um neun Uhr auf, in der Hauptstadt Marokkos: Rabat. Heute wollen wir Unicef aufsuchen und die Stadt besichtigen. Wir ziehen beide extra unsere Unicef-Shirts an. Thorstens ist arg zerknittert. Dann ziehen wir los. Unterwegs kaufen wir Frühstück: Brot mit Käse, Kuchen und einen Liter Milch. Wir gehen mitten in die Stadt. Es ist nicht weit. Wir setzen uns auf eine Bank neben der Medina uns frühstük-ken erst einmal in aller Ruhe. Es folgt ein Gang durch die Medina. In einen großen Buchladen kaufe ich eine Marokko-Karte. Ein kleines Mädchen, so breit wie zwei Schwule, doppelt so groß wie Mohammed-Sanitäranlagenbetrieb von vorhin, verkauft geschrubbelte, enthaart Ziegenköpfen und –Füße. Der beson-dere Clou ist, dass die Verabreitung vor den Augen des Kunden geschieht. Erst wird der Kopf genommen, das Schaf guckt schon mit ganz verdrehten Augen, manche strecken dem Schlachter auch die Zunge her-aus. Dann wird dem Kopf eine schicke Kurzhaarfrisur verpasst. Der Schlachter passt auf, dass keine Haa-re in den Hals hineingeraten. Die frisierten Köpfe werden bei seinem Kumpel, der hinter ihm steht, in eine Wanne geschmissen. Der Kumpel schrubbelt dann mit einer Art Drahtwolle die restlichen Haare vom Kopf. Voila! Bon appétit. Fertig ist der Ziegenkopf. Und das riecht so gut! Wir verkneifen uns einen Brechreiz und gehen schnell weiter.

Es gibt hier Berufe, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Gut, dass der Kas-settenladen gleich nebenan auch noch von den herrlichen Düften profitiert. Gegen Mittag nehmen wir ein Taxi zur Unicef-Station. Es kostet nicht viel, doch leider ist die Adresse, die Frau Freude uns gegeben hat, falsch. Ein zweites Taxi wird fällig, denn die neue Adresse stand an der Tür. Endlich stehen wir vor dem Ziel unserer Tour: Das Unicef-Büro von Rabat ist ein eindrucksvolles Gebäude, sogar mit Pförtner. Wir machen zwei Fotos und werden eingelassen, nur damit uns eine Umzugshelferin erklären kann, dass zur Zeit niemand da ist. Es sind Ferien, und erst im September ist wieder jemand da. Wir sollen doch dann noch mal wiederkommen. „Kein Problem,“ sagen wir, „wir können ja so lange hier warten.“ Spaß bei-seite, enttäuscht gehen wir wieder. Von einem schönen Empfang wie in Lissabon fehlt hier jede Spur. Gleich nebenan ist zum Glück ein Pizza Hut, Zeit für eine Mittagspause.

Für den Nachmittag habe wir uns eine kleine Besichtigungstour vorgenommen. Wir gehen zuerst in die Chellah, ein ummauertes Gebiet, in dem die ersten 2.300 Jahre alten Siedlungsreste Rabats zu sehen sind. Es ist sehr schön, auch begrünt und extrem ruhig. Wir machen schöne Fotos. Um sechzehn Uhr gehen wir wieder in die Innenstadt. Wir besuchen den Tour Hassan, das Wahrzeichen Rabats und das gegenüberlie-gende Mausoleum Mohammed V, indem seit 1999 nun auch Hassan II begraben liegt. Der neue König heißt Mohammed VI. Er ist beim Volk sehr beliebt. Wir drehen noch eine Runde zur Kasbah, direkt am Atlantik, eine Art bewohnte Verteidigungsanlage aus dem Mittelalter. Überall sehen wir Menschen, mit ihren Verkaufsständen, ihren Wagen, viele Kinder, die in der Flussmündung baden oder Schlickwürmer suchen, um sie an Angler zu verkaufen.

Abends geht es dann zurück durch die Medina. In einem kleinen Hinterhofrestaurant kehren wir ein, essen wieder Tajine, die allerdings diesmal ziemlich mittelmäßig sind. Das liegt wahrscheinlich am Geruch: sie riechen so ähnlich wie die geschrubbelten Ziegenköpfe. Nach dem Mahl kommen wir wieder in die Neustadt. Dort ist der Bär los. Überall so viele Menschen. In einem Uhrenladen bekommt Thorsten zwei Swatch-Aufkleber. Schon seit Jahren ist er auf der Suche nach solchen Aufklebern, selbst eine E-mail an Swatch hat nichts genutzt. Dann muss er erst nach Marokko fahren, um welche zu bekommen.

An einer Waage, die gleichzeitig auch die Größe misst, überprüfen wir unser Gewicht. Das ist das erste-mal seit fünf oder sechs Wochen! Ich bin konstant geblieben, Thorsten wiegt drei Kilo mehr. Wir schlen-dern durch das Südtor, das auch Windtor heißt, nach Hause zum Hotel. Unsere Räder sind noch da, wun-derbar bewacht. Wir zahlen für die zweite Nacht. Um halb elf gehen wir schlafen, nicht ohne zu duschen und Fuß- und Fingernägel geschnitten zu haben. Ach ja, rasiert haben wir uns auch noch, wo wir heute doch Rasierschaum besorgt haben. Alles in allem ein schöner Tag. Rabat hat uns gut gefallen und wir haben ja auch wirklich viel gesehen.

37. Tag, Do, 10. August 2000

… wo wir nach Casablanca fahren …

Heute morgen wachen wie so um acht Uhr auf. ‚Wir’ kann ich eigentlich nicht sagen, denn Thorsten ist schon um 6.40 wach und döst dann noch so vor sich hin. Ich stehe auf und packe alles zusammen, was Thorsten löblicherweise schon gestern Abend erledigt hat. Um halb neun checken wir aus. Gleich unten neben dem Hotel ist der Stand der Brötchen, Brot, Getränke, eigentlich alles verkauft. Eine Frau macht frisch auf einer großen Platte eine Mischung aus Brot und Pfannkuchen. Thorsten kauft sich einen mit Käse, ich esse Brot mit Käse, dazu Kuchen, Croissant und Wasser. Nach dem Mahl geht es los. Wir fin-den schnell die Straße, die immer am Meer entlang bis Casablanca führt. Unser heutiges Ziel ist nämlich Casablanca. Erst nach 50 Kilometern machen wir zum ersten Mal Rast. Wir essen Bananen und die Reste türkischen Honigs von gestern, die ich kurz vor dem Tor der Kasbah gekauft hatte. Dann geht es weiter. Nach 70 Kilometern halten wir an einem Restaurant. Dort verbringen wir ganze drei Stunden, schreiben Postkarten, Tagebuch und Briefe während wir auf unser Festmahl warten: Salat, Tajine de Viande mit Pommes, viel weißes Baguette und Oliven, eine große Flasche Wasser (2,5 l) und als kleines Dessert einen marokkanischen Tee. 202 DH sind zwar viel, allerdings in Ordnung für dieses Menü. Wir verab-schieden uns, plaudern noch ein bisschen. Der Kellner will meine Marokko-Karte sehen. Er schaut sie an, als hätte er noch nie eine Karte seines Landes gesehen. Thorsten schenkt ihm daraufhin seine kleine Karte von Marokko. Erst um siebzehn Uhr geht es weiter. Kurz hinter Mohammedia überholt uns ein junger Rennradfahrer. Er spricht mich an, wir kommen auf französisch ins Gespräch. Er heißt Hassan und bietet uns an uns direkt in Casablanca zu Youssef zu bringen, den wir dort besuchen wollen. Er fragt sich dann auch tatsächlich bis vor die Haustür durch. Das ist echt total nett. Da Youssef nicht da ist, gehen wir erst was essen. Natürlich laden wir ihn ein. Er hat die Wahl. Danach rufen wir auf Youssefs Handy an. Dieser erwartet uns vor seinem Haus. Leider können wir nicht bei ihm schlafen, da seine Mutter etwas dagegen hat. Na ja, macht nichts. Eine halbe Stunde später brechen wir auf. Wir suchen uns ein Hotel, nicht ohne Youssef 30.000 mal versichern zu müssen, nicht verärgert zu sein. Sind wir natürlich nicht. In seinem Haus leben vier Familien in zehn Zimmern. Da können und wollen wir nichts erwarten. Wir finden ein schönes Zimmer in einem Hotel am ‚Place Bongedong’, mit Dusche, Waschbecken und Bidet auf dem Zimmer. Das ist fantastisch. Ich versuche noch zu telefonieren, erreiche aber niemanden. Dann gehen wir nach einer erfrischenden Dusche sofort schlafen. Ach ja, Tagesetappe: 110 Km.

38. Tag, Fr, 11. August 2000

... wo wir am Strand von Mohammedia Urlaub machen ...

Wir sind mit Youssef um zehn Uhr am ‚Hyatt Regency’, dem größten Hotel Casablancas verab-redet. Also stehen wir um neun Uhr auf, frühstücken unten um die Ecke, wie immer. Wir neh-men uns eins von den in Casablanca roten ‚Petit Taxis’ bis zum Hyatt. Es ist nah, nur 5 DH. Es ist noch etwas Zeit, also bummeln wir noch kurz über den Basar am ‚Bab Marrakesch’. Ein Typ bietet Thorsten ein Rolex für 350 Dirham an. Als er sie für 20 DH immer noch nicht kaufen will ist der Kerl verärgert und haut ab.

Wir treffen Youssef. Er ist gut gelaunt. Wir wollen heute gemeinsam einen Strandtag in Mo-hammedia, einer Nachbarstadt Casablancas machen. Heute, am Freitag, ist nämlich der Sonntag der Moslems, mit einem großen Mittagsgebet. Youssef, der nicht streng gläubig ist, lässt den Gottesdienst gerne mal ausfallen.

Wir nehmen den Bus. Youssef lässt es sich nicht nehmen für uns zu bezahlen. Der Strand ist schön, aber sehr voll. Das Wasser ist aber nicht sonderlich sauber. Youssef kann nicht schwim-men, wie wohl die meisten hier in Marokko. Er bewundert uns, wie wir uns trauen so ‚weit’ herauszuschwimmen. Wir liegen den ganzen Nachmittag in der Sonne und genießen die Erho-lung. Um siebzehn Uhr fahren wir mit einem ‚Taxi collectif’ zurück, einer Art Sammeltaxi. Zu Hause bei Youssef lernen wir seine Familie kennen. Wir werden zu Tee und Gebäck eingeladen. Das schmeckt so gut, ich liebe den marokkanischen Tee. Dann machen wir viele schöne Fotos. Alle sind ganz stolz fotografiert zu werden. Youssef macht auch ein paar Bilder. Ihm scheint es zu gefallen, vor allen Dingen der winzige Apparat von Thorsten. Erst um sieben Uhr verab-schieden wir uns und fahren zum Hotel zurück, wo wir schon eine Stunde später schlafen gehen.

39. Tag, Sa, 12. August 2000

... wo wir marokkanischen Couscous schaufeln ...

Wir sind wieder um zehn Uhr mit Youssef am Hyatt Regency verabredet. Da wir ja morgen nach Agadir fahren wollen gehen wir erst zum gare routière zur CTM-Station und kaufen Fahr-karten. Leider gibt es nur noch zwei Plätze für heute Abend um halb elf. Wie sind einverstan-den. Dann sind wir halt schon morgen früh in Agadir. Nachdem alles erledigt ist machen wir einen Stadtbummel durch Casablanca. Es ist wirklich eine riesige Stadt, an der Scheide zwi-schen Armut und Reichtum, Tradition und Moderne, mit einem perfekten Verkehrschaos, in dem nur noch die Hupen sprechen, aber dennoch sehr nah bei den Menschen, die ich selten in dieser großen Zahl auf öffentlichen Straßen und Plätzen gesehen habe. Alles in allem sehr schön. Es gibt viele kleine, traditionelle Geschäfte, aber auch viele Internet-Cafés oder McDo-nalds.

Um halb eins sind wir bei Youssef’s Familie eingeladen zum Mittagsessen. Es gibt original marokkanischen Couscous. Alle Männer der Familie, mit uns immerhin vier essen aus einer großen Schale. In dieser ist Hirse, mit Hühnerfleisch und Gemüse. Schmeckt super. Youssef isst unglaublich schnell und treibt uns ununterbrochen zum Essen an: „Mange, mange, mange, ...“. Wir können aber nicht mithalten, vor allem Thorsten hat große Schwierigkeiten so schnell zu schlucken ohne viel zu kauen. Zu trinken gibt es Dickmilch oder marokkanischen Tee. Das ist auch echt lecker. Nach dem Essen machen wir Mittagsruhe im Wohnzimmer. Youssef führt uns sein traditionelles Muslimengewand vor. Wir ziehen es jeder auch einmal an und machen Bil-der.

Gegen fünfzehn Uhr brechen wir auf. Wir wollen die Grande Mosquée Hassan II bewundern, eine erst 1993 fertiggestellte High-Tech-Moschee, die vor der Küste von Casablanca ins Meer hinein gebaut worden ist. In ihr finden 104.000 Gläubige Platz. Nachts leuchtet ein grüner La-serstrahl 30 km Richtung Mekka. Das ist der Wahnsinn! Es ist unglaublich beeindruckend, vor so einem Bauwerk zu stehen. Leider hat aber auch die junge Geschichte dieses Gebäudes viele Schattenseiten. So meiden viele Marokkaner den Bau, weil Hassan II, der letzte König, ihn nur mit Hilfe von Zwangsspenden aus seinem Volk finanzieren konnte. Sein Volk musste bluten für ein wahnwitziges Projekt. Wieviel dringend notwendige Bildungsprogramme hätten für dieses Geld finanziert werden können? Leider ziehen Bildungsprogramme keine Touristen an und können auch keinen Namen bis in alles Ewigkeit tragen.

Gegen neunzehn Uhr verabschieden wir uns endgültig von Youssef. Es hat viel Spaß gemacht mit ihm und er hat mir in den letzten beiden Tagen sehr viel von der marokkanischen Kultur und Lebensweise nahe bringen können. Es ist doch etwas ganz anderes, ein fremdes Land zusammen mit einem Einheimischen erkunden zu können. Wir fahren zum Hotel zurück, packen alles zusammen und fahren dann mit dem Fahrrad zum CTM-Bahnhof, wo heute Nacht unser Bus abfährt. Wir essen noch eine Kleinigkeit bei McDonalds zu Abend. Dann warten wir lange bis unser Gepäck eingecheckt ist und der Bus um dreiundzwanzig Uhr endlich abfährt.

Die Fahrt selbst ist grauenhaft. Thorsten kann sogar schlafen, aber er sitzt auch am Fenster. Ich mache kein Auge zu. Alles ist eng, die Kopfstützen viel zu niedrig. Da haben wirklich nur Durchschnitts-Marokkaner von 1,65 m Größe genügend Platz. Wir machen während der Fahrt nachts zweimal Pause, jedes Mal an speziellen Stationen mit vielen kleinen Geschäften, die die ganze Nacht geöffnet haben. Da gibt es Schlachter, die gerade ihre Tiere zerlegen, Grillbuden, kleine Bistros und Bars. Es stehen jedes Mal schon mehrere Busse da, so dass wohl die ganze Nacht reger Betrieb herrscht. Einmal werden wir von einem Marokkaner, der viele Jahre in Deutschland gelebt hat zu einem Orangensaft eingeladen. Das ist auch so ein komischer Kauz. Er hat kaum noch gesunde Zähne und erzählt ziemlich viel dummes Zeug, denn „gut ist gut und schlecht ist schlecht“. Wir sind jedenfalls froh, dass wir irgendwann weiterfahren und ihn nicht länger. Hoffentlich geht die die Nacht bald zu Ende. Ich habe keine Lust mehr.

40. Tag, So, 13. August 2000

... wo wir Abdel nicht finden und erst mal schlafen gehen...

Als die Busse irgendwo in Agadir halten, sind wir ziemlich enttäuscht vom Anblick der Stadt. Überall sehen wir Flachdachhäuser aus Beton mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach. Das ist kein schöner Anblick. Die Stadt Agadir (185.000 Einw.) wurde nach einem verheerenden Erdbeben 1960 in diesem nüchtern wirkenden Betonstil wieder aufgebaut und besitzt auch laut Reiseführer kein besonderes Flair, geschweige denn ein Zentrum.

Wir holen unser Gepäck aus dem Bauch des Busses. Unsere Fahrräder fehlen aber. Wir müssen noch etwas warten, denn ein dritter Bus, der vielleicht fünfzehn Minuten später ankommt hat sie im Gepäck. Unsere Laune ist am Tiefpunkt. Eigentlich sind wir ja nach Agadir gekommen u noch Abdel zu besuchen, den Belgier marokkanischer Abstammung, den wir auf der Fähre nach Tanger kennengelernt haben. Doch irgendwie wollen wir nur noch nach Hause. Wir fragen den nächsten Taxifahrer, wo es zum Flughafen von Agadir geht. Es ist ziemlich weit, vielleicht 30 Kilometer. Darauf haben wir keine Lust, obwohl es erst halb neun ist. Ich frage den Taxifahrer, ob er nicht eine Transportmöglichkeit für uns kennt. Er fährt kurz weg und besorgt uns ein kleines Taxi mit Ladefläche. Für einen Festpreis lassen wir uns so zum Flughafen bringen. Dort angekommen fragen wir an der Information, nach Möglichkeiten nach Deutsch-land zu fliegen. Das ist schwierig meint diese. Die nächsten Maschinen nach Deutschland fliegen erst am Dienstag, wo bei sie nicht sagen kann, ob noch Plätze frei sind. Wir sollen uns an eine Flugagentur wen-den, die es nur direkt in Agadir gibt. Zur Sicherheit gibt sie uns noch zwei Telefonnummern, bei denen wir es am Montag mal versuchen können. Sonntags hat sowieso keiner offen, Montag ist leider Feiertag, aber vielleicht haben wir ja Glück.

Tja, da haben wir Pech gehabt. Was sollen wir machen? Wir haben ja noch die Adresse von Abdel, der ein Haus in Inezgane hat, einem Nachbarort von Agadir. Vielleicht können wir bei ihm schlafen. Also fahren wir mit den Rädern nach Inezgane. Das sind bestimmt 20 Kilometer. Kaum sind wir angekommen, fragen wir ein paar Taxifahrer nach der ‚Rue Rabat’, in der Abdel wohnen soll. Niemand kennt diese Straße. Auch nicht die Polizei. Das ist schlecht. Da wir keine Telefonnummer haben, gibt es für uns nun keine Möglichkeit mehr mit Abdel in Kontakt zu kommen. Wir suchen uns ein Hotel, das nächste das wir finden können. Es hat noch genau ein Doppelzimmer frei. Das kommt ja wie gerufen. Wir stellen unsere Räder in die Garage und checken ein. Obwohl es erst ein Uhr ist, gehen wir sofort schlafen; die Nacht war einfach zu anstrengend. Das Zimmer ist ganz schön und ziemlich groß, mit Dusche und WC. Aber jetzt ist mir das gerade ziemlich egal, jetzt mache ich nur noch die Augen zu.

41. Tag, Mo, 14. August 2000

... wo wir uns ein Flugticket besorgen ...

Wir wachen erst um neun Uhr auf! Das heißt wir haben fast zwanzig Stunden am Stück geschla-fen! So etwas ist mir noch nie passiert. Jetzt sind wir aber erst einmal ausgeruht. Unsere Fahrrä-der lassen wir im Hotel stehen, wir nehmen das Zimmer noch für eine zweite Nacht. Dann su-chen wir uns eine kleines Geschäft, in dem wir etwas zum Frühstücken kaufen können.

Nachdem wir ein paar Kleinigkeiten gegessen haben, bringt uns ein Taxi günstig nach Agadir. Heute wollen wir uns ein Rückflugticket besorgen. Hoffentlich haben wir Glück. Die erste Adresse einer Condor-Agentur, die wir uns aus einem Telefonbuch heraussuchen, erweist sich als Flop, wie wir nach halbstündiger Taxi-Suchfahrt feststellen. Auch bei den Telefonnummern der Flughafendame von gestern meldet sich niemand. Entnervt schlendern wir durch die Stadt. Thorsten fragt bei einem großen Hotel nach, ob sie zufällig einen Vertreter irgendeiner Reisege-sellschaft im Haus haben, der uns weiterhelfen könnte. So einen gibt es nicht, allerdings kann ihm eine Dame sagen, wo wir das Neckermann Servicebüro finden. Aber auch dort muss man uns enttäuschen. Alle Flüge, die Neckermann von Agadir aus unternimmt, sind grundsätzlich belegt. Sollten Plätze frei werden, werden diese immer von Deutschland aus vergeben, nicht von hier in Agadir.

Wir essen Mittag bei McDonalds. Dann klappern wir noch zwei andere Reisebüros ab, die wir gesehen haben, wir latschen also immer kreuz und quer durch Agadir. Das erste Büro sagt dasselbe wie die anderen. Erst im letzten werden wir nicht sofort enttäuscht. Ein Verkäufer sagt, wir sollen nochmal am Nachmittag wiederkommen, vielleicht kann er bis dahin eine Rück-flugmöglichkeit ausmachen. Ein bisschen skeptisch sind wir schon noch. Er wirkt nicht be-sonders überzeugend.

Wir gehen erst einmal an den Strand von Agadir. Ich habe Lust mich zu sonnen. Thorsten, der noch Sonnenbrand von Mohammedia hat, wandert lieber am Strand entlang. Der Strand ist riesengroß, vielleicht acht Kilometer lang; und alles ist voller Menschen, allerdings auch ziemlich dreckig. Als es endlich halb fünf ist gehen wir zurück zum Reisebüro. Ja! Wir haben Glück! Er konnte eine Flugmöglichkeit für uns finden! Morgen, am Dienstag, um 6.20 Uhr von Agadir nach Casablanca, um 8.10 Uhr dann von Casablanca nach Frankfurt. Das ist traumhaft! Morgen geht es nach Hause! Ich habe Sehnsucht nach so vielem...

Ein kleines Problem gibt es noch. Der Flug kostet 700 Mark pro Person. Wir sollen nach Mög-lichkeit bar bezahlen. Wo kriegen wir jetzt noch auf die Schnelle soviel Geld her? Am Bankau-tomaten können wir jeder nur 2000 Dirham bekommen. Es fehlen noch 600 Mark...

Ah, so ein Glück, obwohl heute Feiertag ist, hat eine ganz kleine Bank mit einem Schalter geöffnet. Dort kann Thorsten mit der Kreditkarte die restlichen 3000 Dirham bekommen. So, jetzt schnell alles verstauen, zurücklaufen, bezahlen und das Ticket in die Heimat in Empfang nehmen. Geschafft. Wir sind glücklich. Es ist achtzehn Uhr und alles hat geklappt.

Wir nehmen ein Grand Taxi zurück zum Hotel. Es ist ein uralter Mercedes. Thorsten ist total von dem Auto fasziniert und denkt wohl wehmütig an seinen eigenen alten Mercedes, den er nicht mehr hat. Zurück in Inezgane planen wir alles für morgen. Wir besorgen uns Karton zum einpacken der Fahrräder und kaufen Klebeband. Dann machen wir uns noch ein Lunchpaket. Zu Abend essen wir in einem kleinen Restaurant jeder eine Suppe für 3 Dirham. Das schmeckt super. Ein letztes mal schlendern wir durch die Innenstadt von Inezgane. Noch einmal staune ich über die vielen Menschen, die jeden Abend auf der Straße sind. Abends ist alles ist voller Leben, tagsüber ist dagegen kaum was los. Irgendwie ist das aber schön. Und es gibt hier so vie-le Kinder...

Vielleicht um neun Uhr gehen wir schlafen. Immerhin müssen wir morgen früh aufstehen. An der Rezeption sagen wir bescheid, dass wir um kurz vor vier geweckt werden möchten. Das ist kein Problem. Ich bin ziemlich aufgeregt, als ich versuche einzuschlafen. Morgen geht es nach Hause...

42. Tag, Di, 15. August 2000

... wo wir nach Hause fliegen ...

Ich mache die halbe Nacht kein Auge zu, so aufgeregt bin ich. Als der Hoteljunge klopft bin ich schon längst wach. Ich glaube Thorsten geht es nicht anders. Gestern hatten wir alles so perfekt vorbereitet, so das jetzt alles ganz schnell geht. Anziehen, Packtaschen nach unten tragen, beladen, abfahren. Schon kurz nach vier geht es los Richtung Flughafen. Draußen ist es noch stockdunkel. Nur die Straßenlaternen spen-den etwas Licht. Es ist feucht kühl und etwas nebelig. Schon nach kurzer Zeit sammeln sich viele Kleinstwassertropfen auf meiner Brille. Zum Glück sind wir die Strecke zum Flughafen schon einmal gefahren. Trotzdem sieht nachts alles ganz anders aus. Es sind kaum Leute auf der Straße. Nur ein paar Typen mit Fahrräder sprechen uns an und fahren eine Zeitlang hinter uns her. Ein merkwürdiges, mulmiges Gefühl befällt mich bei dem Gedanken hier nachts verfolgt zu werden. „Moment mal, müssen wir hier nicht rechts?“ „Keine Ahnung, lass uns besser noch ein Stück geradeausfahren.“ Und wir fahren und fahren. Die Gegend kommt mir immer unbekannter vor, obwohl es doch alles ähnlich aussieht. An einer Tankstelle fragt Thorsten nach dem Flughafen. Natürlich sind wir falsch gefahren, bestimmt fünf Kilometer in die falsche Richtung. Also alles wieder zurück und dann doch links abbiegen. Gerade noch rechtzeitig, um fünf Uhr, sind wir dann am Flughafen mit knapp 30 Kilometern in den Beinen.

Wir montieren die Pedale von den Rädern, drehen die Lenker und kleben alle wichtigen Stellen mit Pappe und Klebeband ab. Dann checken wir ein, besser gesagt ich checke für uns ein, denn Thorsten hat beim Warten in der Schlange plötzlich so ein ungemein drängendes Grummeln im Darm gespürt. Kurze Zeit später verspüre ich auch so ein Grummeln und renne auch aufs Klo. Da müssen wir uns am letzten Tag irgendwo so einen verfluchten Durchfallvirus eingefangen haben. So ein Dreck. Vielleicht können wir ja die Sitzplätze tauschen und doch am Gang sitzen...

Im Flugzeug ist es dann aber gar nicht so schlimm. Der erste Flug nach Casablanca dauert nur vierzig Minuten. Wir fliegen mit Royal Air Maroc. In Casablanca haben wir dann eine knappe halbe Stunde zum Umsteigen. Das ist weniger als es sich anhört. Wir wollen nämlich noch aufs Klo und Thorsten kauft noch kurz zollfrei eine Flasche Polo-Sport-Parfüm.

Der Flug nach Frankfurt ist angenehm aber auch beängstigend schnell. Unter uns rast die Landschaft vorbei, jeder Berg, den wir in den letzten sechs Wochen erkämpft, jeder Fluss den wir überquert hatten, alles so schnell, in vier Stunden eine Strecke für die wir so lange gefahren sind, die uns so viel Schweiß gekostet hat, die uns so viele Erinnerungen bedeutet. Hier oben in der Luft wird alles zur Unkenntlichkeit anonym und fremd, verkleinert und verzerrt. Sind wir da wirklich langgefahren? Ist das unser Weg? Ich glaube, der Traum des Menschen vom Fliegen wird immer ein Traum bleiben. Der Mensch lebt durch und in seinen Erinnerungen, in seinen Erlebnissen, wird durch sie Mensch. Das Fliegen verzerrt die Rea-lität der Wahrnehmung; der Mensch der fliegt verbindet nichts oder nur noch spurenhaftes mit der Strek-ke, die er so bewältigt. Die Welt ist ungreifbar fern, ungreifbar fern sind auch die Erinnerungen an die geflogene Strecke. Der Flug bleibt ein Traum. Umso mehr bin ich jetzt stolz auf unsere Leistung der letzten Wochen, die Bewältigung einer Strecke aus eigener Kraft, mit der ich jetzt so viel verbinde, die mir eine Fülle wunderbarer Erinnerungen bedeutet.

Als wir in Frankfurt landen suchen wir unsere Fahrräder. Tatsächlich stehen sie beim Sperrgepäck. Alle Achtung. Das hätte ich nicht gedacht, dass die den Weg rechtzeitig in die zweite Maschine finden wür-den. Sie sehen zwar ein bisschen ramponiert aus, aber das macht ja nichts. Wir rufen zu Hause an und sagen Bescheid, dass wir schon in Deutschland sind. Wir wollen einen Zug nach Hannover nehmen und kommen wahrscheinlich um neun Uhr an. Als wir unsere Bahnfahrkarten kaufen, bemerkt Thorsten, dass er seine Polo-Sport-Flasche im Flugzeug liegen lassen hat. Schnell rennt er zurück, geht auch zum Fundbüro, doch sie lässt sich nicht wieder auftreiben. So ein Pech.

Es geht in die S-Bahn, dann ab Frankfurt Hauptbahnhof in einem Regionalexpress nach Würzburg und noch mal umsteigen in einen Interregio, der bis Hannover durchfährt. Im letzten Zug gibt es dann auch ein Bistro, wo wir Abendbrot essen: Trockene Brötchen und Pfefferminztee. Um neun Uhr fahren wir in den Bahnhof von Hannover ein und werden von unseren Eltern und Tanja in Empfang genommen, zurück im Schoße der Familie. Damit geht ein überwältigendes, landschaftlich und kulturell faszinierendes Radprojekt glücklich zu Ende, von dem ich (fast) keinen Tag missen möchte, das mir so unglaublich viele neue Eindrücke beschert hat, neue Freunde und tiefe Einblicke in Leben, Land und Leute der Länder Frankreich, Spanien, Portugal und Marokko. Aber ich bin auch froh wieder hier zu sein.

November 2000

...wo wir Unicef das Geld überreichen...

Die Spendensammlung für Unicef hat eine überwältigende Summe von 1.322,65 Mark ergeben. Mit soviel hätte ich niemals gerechnet. Das Geld fließt in ein Bildungsprojekt für Mädchen in Marokko. Ich freue mich, dass wir mit unserer Tour, die uns selbst soviel Spaß gemacht hat, auf diese Weise noch einen kleinen Beitrag zur ‚Verbesserung’ der Welt leisten konnten. Das Geld wird bestimmt gebraucht.

Die Scheckübergabe an Christiane Freude von Unicef fand in der Mehrzweckhalle in Bissendorf während der siebten Unicef-Party in der Wedemark statt.